Unsere Demokratie hängt von der Verwaltungstransformation ab
63 Prozent der öffentlich Beschäftigten halten den Staat, für den sie arbeiten, für überfordert [1]. Bis 2030 könnten dem öffentlichen Dienst ohne Gegenmaßnahmen über eine Million Fachkräfte fehlen [2]. Das sind ein Fünftel der heute Beschäftigten. In allen anderen Bereichen, insbesondere der Wirtschaft, haben wir erkannt, dass es durch den demografischen Wandel einen eklatanten Fachkräftemangel gibt; dass wir nicht mehr in der Lage sind, Stellen zu besetzen. Bei politischen Vorhaben und der öffentlichen Diskussion darüber, scheint dieser demografische Wandel und der Fachkräftemangel jedoch keine Relevanz zu haben. Da werden 5.000 neue Stellen zur Umsetzung der Kindergrundsicherung gefordert und die Diskussion beschränkt sich darauf, ob diese Anzahl der Stellen sinnvoll ist oder nicht – nicht darüber, ob wir überhaupt in der Lage wären, diese zeitnah zu besetzen und ob Staat im Jahre 2024 nicht anders funktionieren sollte, als durch Neueinstellung von Sachbearbeiter:innen.
Dass 63 Prozent der öffentlich Beschäftigten den Staat nicht mehr für leistungsfähig halten, ist kein Bauchgefühl der Befragten. In Stuttgart mussten Menschen vor den Ausländerbehörden campieren, um einen der wenigen Terminslots zu bekommen [3]. Behörden sind schlichtweg überlastet, Menschen bewerben sich weg, sind wegen Burnout krankgeschrieben oder nehmen ihren wohlverdienten Urlaub. Auf die freien Stellen bewirbt sich niemand. In Sachsen protestieren noch vor der zunächst geplanten Streichung der Agrarsubventionen die Bauern, da Software nicht rechtzeitig angepasst werden konnte, um ihnen ihre EU-Gelder pünktlich zum 1. Januar auszuzahlen [4]. Dann, wann ihre Pacht und Versicherungen fällig werden und sie das Geld brauchen. Das Gesetz zur Ersatzfreiheitsstrafe konnte nicht wie eigentlich geplant zum 1. Oktober 2023 umgesetzt werden, da die Softwareanpassungen sich länger hinzogen [5].
Das alles sind keine Kleinigkeiten. Insbesondere nicht für die betroffenen Menschen und es ist nur ein kleiner Ausschnitt von Dingen, die nicht oder zu langsam gehen, weil Personal fehlt und die Transformation unserer Verwaltung, hin zu modernen Behörden, die digital arbeiten, zwanzig Jahre hinterherhinkt.
An der Modernisierung unserer Verwaltung hängt auch der Glaube an die Demokratie
Schaut man in der genannten Studie des Deutschen Beamtenbundes ein paar Zeilen höher, erfährt man, was eigentlich die Bürger:innen über die Leistungsfähigkeit des Staates denken. Sie ist nicht überraschend mit 69 Prozent noch schlechter und über die Jahre ist dieser Wert gestiegen. Was bedeutet es für unser demokratisches System, wenn Menschen nicht mehr an die Leistungsfähigkeit dieses Staates glauben? Die Transformation unserer Verwaltung ist nichts, was nice-to-have ist. An hier hängt der Glaube an und das Vertrauen auf einen leistungsfähigen Staat, der mir unkompliziert die Leistungen bereitstellt, die ich brauche und die ich beanspruchen möchte.
Der Normenkontrollrat hat in seiner jüngsten Studie, durchgeführt von Deloitte, die Komplexitätsfalle unseres Sozialstaates umfassend dargestellt [6]. In der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. März 2024 wurde anhand eines Beispiels dargelegt, was diese Komplexität für Leute bedeuten kann [7]: Menschen, die eh schon wenig haben, müssen nicht nur zu enorm vielen Anlaufstellen, sie leben auch immer in Sorge, dass sich komplexe Berechnungsgrundlagen ändern und sie Gelder zurückzahlen müssen. Gelder, die sie bekommen, weil es sonst nicht zum Leben reicht.
„In dem Beispielfall ist es heute so: Der Haushalt erhält Kindergeld und Kinderzuschlag bei der Familienkasse, Wohngeld und Leistungen für Bildung und Teilhabe der Kinder beim Wohngeldamt, Arbeitslosengeld von der Arbeitsagentur, Sozialhilfe und Hilfe zur Pflege beim Sozialamt. Daneben gibt es Leistungen von Kranken- und Pflegekasse. Und Absetzung der Kinderbetreuungskosten sowie den Alleinerziehendenfreibetrag beim Finanzamt.
Noch umständlicher ist die Abwicklung durch die vielen Ämter. Denn die Höhe einer Hilfe hängt oft von der Höhe einer anderen ab, die sich wiederum nach dem individuellen Einkommen richtet. Obendrein sind wichtige Prüfkriterien je nach Sozialleistung im jeweiligen Gesetz unterschiedlich definiert. Ergebnisse der einen Antragsprüfung lassen sich dann schlecht zur Klärung anderer Ansprüche nutzen.
Für die 12 Leistungen im Musterfall seien „mindestens vier verschiedene Einkommensbegriffe und drei verschiedene Begriffe der häuslichen Lebensgemeinschaft anzulegen“, zeigt die Studie. Und sollte „ein künftiges Arbeitseinkommen des Vaters über der Freigrenze liegen und schwankend sein, ist die Berechnung monatlich neu vorzunehmen“. Zudem drohten ihm Rückforderungen durch die Wechselwirkungen zwischen den Leistungen.
Das Beispiel ist extrem, verdeutlicht damit aber die tieferliegenden Probleme, um deren Lösung es dem Normenkontrollrat und den Gutachtern geht: Der Sozialstaat hat einen riesigen Verwaltungsaufwand, er braucht enorm viel Personal allein fürs Be- und Abrechnen von Leistungen. Aber Bedürftige werden oft eher überfordert als zufriedengestellt. Außerdem steht der Wirrwarr von Regeln und Zuständigkeiten dem Ziel im Weg, den Aufwand durch Digitalisierung zu senken. Und selbst eine Supersoftware löste nicht das Problem, dass die fachlich und föderal verzweigten Behörden oft unterschiedliche IT-Systeme mit inkompatiblen Schnittstellen nutzen.“
Wer also das – wie ich finde richtige – politische Ziel verfolgen will, Kinderarmut zu bekämpfen und Menschen die Leistungen zukommen lassen will, die ihnen zustehen, der kann – und darf! – sich nicht an den 5.000 Stellen für die Familiencenter aufhalten. Denn das Festhalten hieran verkennt die Realitäten des Arbeitsmarktes – 5.000 Stellen lassen sich zudem nicht über Nacht besetzen, selbst wenn es die qualifizierten Arbeitskräfte gäbe (und hier haben wir noch nicht über die Anforderungen des TVÖD an die formalen Qualifikationen gesprochen!) –, und es verkennt, dass die Komplexität unseres Sozialsystems ein enormes Problem darstellt. Und da stimme ich mit dem NKR überein: Es darf bei einer Komplexitätsreduktion nicht darum gehen, Sozialleistungen zu kürzen. Es muss darum gehen, den Staat wieder handlungs- und leistungsfähiger zu machen. Dazu gehört auch, die Einzelfallgerechtigkeit, die nicht nur in Deutschland zu enormen Verzögerungen führt (vgl. Jennifer Pahlka “Recoding America. Why Government is Failing in the Digital Age and how we can do better”), abzuschwächen und zu pauschalen Bewilligungen zu gelangen. Dafür ist auch zu plädieren, weil die Komplexität unserer Sozialleistungen einfach nicht mehr abbildbar ist – weder auf einem Blatt Papier, noch digital.
Unsere Sozialleistungen und die Ansprüche darauf, sind mittlerweile so komplex und kompliziert, dass ich keine Person persönlich kenne, die keine Probleme beim Stellen von Elterngeldanträgen hat. Wohlgemerkt alles Akademiker:innen, teilweise Volljurist:innen. Was bedeutet es für unsere Demokratie und Gesellschaft, wenn Bürger:innen nicht mehr selbstständig verstehen (können), was ihnen zustehen könnte und was nicht? Was bedeutet es, wenn Menschen nicht von Zuhause aus ihre Leistungen beantragen können, weil sie sich nicht trauen zu einem Amt zu gehen oder Krankheiten und Behinderungen sie gar davon abhalten? Was bedeutet es, wenn Menschen auf Gelder zum Überleben angewiesen sind, der Staat sie aber wegen Personalmangels und überaus komplexer Prozesse und Überprüfungen nicht rechtzeitig auszahlen kann?
Verwaltungsdigitalisierung muss in die breite öffentliche Diskussion
Vor wenigen Wochen wurde das Onlinezugangsänderungsgesetz (OZG 2.0) vom Bundesrat gestoppt. Eine Diskussion im Parlament gab es nicht. Nicht nur die Bremse dieses Gesetzes schockierte mich (ein Vermittlungsausschuss ist bisher nicht angerufen worden), sondern auch, dass keine Begründungen der Ablehnung im Bundesrat diskutiert wurden. Ebenso, dass danach auch nur kurz und mit recht wenig Aufmerksamkeit berichtet wurde.
Alle politischen Parteien fordern eine digitale Verwaltung. Nahezu alle Bürger:innen wollen eine digitale Verwaltung für ihre Anliegen. Interessieren tun sich für die Umsetzung dann aber doch zu wenige. Vielmehr wird nicht erkannt, welche Bedeutung diese Generationenaufgabe einer Transformation für uns als Gesellschaft und demokratischen Staat hat. Wir können es uns nicht mehr leisten, politische Diskussionen wie zu Bonner-Republik-Zeiten zu führen und meinen, wir lösen unsere politischen Probleme und Herausforderungen der Verwaltung mit mehr Personal. Das ist schlicht nicht da und der Anspruch an Verwaltung hat sich ebenfalls geändert.
Amy Webb kritisierte jüngst in der Süddeutschen Zeitung den fehlenden Willen der deutschen Wirtschaft, sich zu verändern [8]. Das scheint nicht nur für die Wirtschaft zu gelten, sondern auch für uns als gesamte Gesellschaft. Wir müssen lernen, anders zu denken, wie politische Maßnahmen in Verwaltungshandeln umgesetzt werden können. Machen wir weiter wie bisher, lähmt uns nicht nur die bis dahin noch größer gewordene Komplexität komplett, es werden auch nicht mehr genügend Leute in den Verwaltungen sitzen, die die Komplexität dank ihrer jahrelangen Verwaltungserfahrung verstehen und anwenden können. Verwaltungsdigitalisierung und -transformation muss viel stärker auf unsere gesellschaftliche und politische Agenda. Davon hängt die Zukunft unseres Gemeinwesens und unserer Demokratie ab. Es campierten schon genügend Leute vor Ämtern.
[1] https://www.dbb.de/fileadmin/user_upload/globale_elemente/pdfs/2023/forsa_2023.pdf S.5
[7] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wie-der-sozialstaat-zum-buerokratiemonster-wurde-19611136.html[8] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/sxsw-amy-webb-innovationen-deutschland-1.6439743?reduced=true