Gastbeitrag zum Liberalismus bei ZEIT Online: Was das Tiananmen-Massaker mit Pornoseiten zu tun hat
Wie macht man Menschen begreifbar, was Freiheit im Netz bedeutet? Warum Bürger- und Menschenrechte die Grundlage für die Digitalisierung sein müssen und nichts drängender ist, als diese auch im Digitalen zu schützen? Auf Warnungen hinzuweisen von UN-Sonderberichterstattern für Meinungsfreiheit, die die Gesetzgebung in Deutschland und Europa, zum Beispiel beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz und der EU-Urheberrechtsrichtlinie kritisieren, habe ich versucht. Mit Verweisen auf die Freiheitskämpferinnen und -kämpfer in Hongkong und Belarus, die auf sichere, verschlüsselte Messenger angewiesen sind, ebenfalls. Aber das Thema, bei dem man plötzlich die volle Aufmerksamkeit hat, ist: Pornos.
Freiheit spürt man erst, wenn sie weg ist
Gleich zwei Pornowebsites sind unter den 25 meistbesuchten Seiten Deutschlands, auch wenn natürlich nie irgendwer drauf geklickt haben will. Pornos und der Zugang zu ihnen haben also eine gesellschaftliche Relevanz. Und gleichzeitig immer noch ein Schmuddel-Image. Deshalb versteht plötzlich an diesem Beispiel jede und jeder, warum Datenschutz, Anonymität und freier Zugang zum Netz so wichtig sind. Denn irgendwie wollen ja doch viele Pornos gucken – und sollen es auch können (unter Einhaltung der Jugendschutzgesetze) –, aber eben ohne, dass irgendjemand weiß, was man gerne guckt, wo und wie lange.
Freiheit spürt man häufig erst dann, wenn sie einem genommen wird. In Russland fiel die Zensur vielen erst auf, als die russische Medienaufsicht Roskomnadzor die zwei beliebtesten Pornoseiten im Land sperrte. In einem Talk auf der Konferenz für Menschenrechte im Digitalen, der RightsCon, veranstaltet von der Friedrich-Naumann-Stiftung, berichtete der russische Journalist Andrej Soldatow, dass die Menschen erst durch diese Sperre bemerkten, wie wichtig und nützlich ein VPN-Zugang ist – und wie wertvoll ein Internet ohne Zensur.
Nun ist Freiheit viel mehr als der Zugang zu Pornografie. Aber Sie merken, worum es geht. Solange Sie nichts Illegales tun, geht es niemanden etwas an, was Sie tun. Freiheit, das bedeutet auch, die Freiheit vor Überwachung, der freie Zugang zu Information und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Auch wenn der Datenschutz hierzulande bisweilen nach Bedenkenträgerei klingt: Warum er wichtig ist – und Freiheitsrechte sichert –, zeigt sich im Kleinen und Alltäglichen. Und in der Weltpolitik, im Umgang mit autoritären Systemen.
In der Corona-Pandemie hat Deutschland einiges geleistet, worauf wir stolz sein könnten. Wir haben es beispielsweise geschafft, eine Corona-Warn-App zu entwickeln, die funktioniert. Lassen Sie sich bitte nichts anderes erzählen! Es ist eine App, die eben nicht den einzelnen Menschen und sein Verhalten ganz genau trackt und deren Daten dann doch zu anderen Zwecken verwendet werden, wie es etwa in Singapur passierte. Dort darf nun doch die Polizei auf die Bewegungsprofile der Nutzerinnen und Nutzer zugreifen. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, garantiert unter anderem durch die Datenschutzgrundverordnung, ist auch in Zeiten einer Pandemie wichtig.
Ich gebe zu, ich bin in einer privilegierten Situation. Ich habe keine Kinder und musste mich nicht mit nicht funktionierenden Lernplattformen, Schul-Clouds und Videoplattformen, die zwingend DSGVO-konform sein müssen, herumschlagen. Und ich verstehe wirklich jeden, den das alles unglaublich wütend macht. Ehrlich. Nur ist nicht der Datenschutz schuld daran, dass vieles nicht läuft. Es ist die seit 20 Jahren verschleppte Digitalisierung unseres Bildungswesens, des Gesundheitswesens und der Verwaltung. Eine leistungsstarke digitale Infrastruktur geht auch mit Datenschutz.
Chinas Zensur wirkt schon jetzt global
Während wir auf die DSGVO schimpfen, ist uns kaum bewusst, dass sie mittlerweile Vorbild ist. Kenia kopiert sie, auch Chile und Japan haben wie viele andere Länder eine ganz ähnliche Gesetzgebung eingeführt. Auch die USA, insbesondere Kalifornien, setzen immer mehr auf Datenschutz und Privatsphäre. Wer in der Europäischen Union mit seinen digitalen Produkten auf den Markt kommen möchte, muss sich an die DSGVO halten. Europa hat global Strahlkraft. Mit dem Digital Markets Act und dem Digital Services Act sind zwei Gesetze in Arbeit, die hoffentlich eine ähnliche Wirkung haben werden.
Freiheit im Netz wird wichtiger. Und datenschutzkonforme Tools in der Schule sind zentral. Denn einmal implementiert, gehen sie nicht mehr weg. Hier geht es nicht um die Schulaufgaben der 5b, die sich die NSA angucken könnte. Hier geht es um biometrische Daten von Kindern, die aufgezeichnet, verarbeitet und gespeichert werden können – ohne dass wir das wissen. Und ohne dass wir das wirklich kontrollieren können, denn wir können sehr häufig nicht in den Quellcode der Software hineingucken. Wir wissen auch nicht, was mit diesen Daten vielleicht irgendwann mal passiert, wo sie landen und welche Restriktionen die Kinder irgendwann mal als Erwachsene erfahren, weil Daten falsch interpretiert oder kombiniert werden.
China darf nicht die Standards setzen
Wir müssen heute Bürger- und Menschenrechte im digitalen Raum schützen, um auch morgen in Freiheit leben zu können. Als Liberale wünsche ich mir möglichst wenig Regulierung. Aber ich sage auch als Liberale deutlich: Es geht nicht ohne. Unsere größte Herausforderung besteht darin, unsere analogen Prinzipien in die digitale Welt zu übertragen. Regulierung zu schaffen, die das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit schützt. Die Märkte fair und sozial macht, zum Beispiel durch die Besteuerung von großen Techkonzernen. Oder den Wettbewerb ermöglicht und Monopolbildungen entgegenwirkt.
Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Essay über die Krise des Liberalismus einen Paradigmenwechsel. Der apertistische, also der öffnende, Liberalismus wird zum einbettenden. Dominierten bis zuletzt die Dynamiken der Märkte und der Globalisierung, werden diese nun nicht eliminiert, sondern in neu zu schaffenden Rahmenbedingungen eingehegt. Dem Mangel an Ordnung wird mit neuen Formen der Regulierung begegnet. Das gilt auch fürs Netz.
Wenn wir es nicht machen, setzen global andere die Standards. Vor wenigen Tagen wurde an das Tiananmen-Massaker erinnert, das zweite Jahr in Folge online. Solche Mahnwachen sind in der Volksrepublik China nicht möglich. Auch nicht digital hinter der chinesischen Firewall. 2020 sollten einige Mahnwachen auf der Videokonferenzplattform Zoom stattfinden. Drei davon wurden von Zoom auf Bitten der chinesischen Regierung gecancelt. Das Unternehmen sperrte sogar die Accounts der Veranstalterinnen und Veranstalter, obwohl diese alle außerhalb Chinas ansässig waren; vier von ihnen sogar in den USA.
Das US-Justizministerium leitete eine Untersuchung ein und erhob Anklage. Zoom gestand ein, dass die Zensurvorgaben Chinas keine Auswirkungen auf Menschen außerhalb der Volksrepublik haben dürften und dass das Unternehmen diesbezüglich „versagt“ habe. Dieses Jahr funktionierte die Mahnwache über Zoom. Die Angst, dass wieder unrechtmäßig auf chinesischen Druck zensiert wird, bleibt.
Der Staatstrojaner untergräbt Deutschlands Glaubwürdigkeit
Der Einfluss Chinas ist längst weltweit spürbar. In diesem Jahr klagten Nutzerinnen und Nutzer der Suchmaschine Bing von Microsoft darüber, dass sie am Jahrestag des Massakers unter dem Suchwort „tank man“ kein einziges Bild von dem chinesischen Mann finden konnten, der sich vor die Panzer auf dem Tiananmen-Platz stellte. Bing ist eine der wenigen westlichen Suchmaschinen, die auch in China operieren und sich dort den Zensurvorgaben unterwerfen. Es sei ein „versehentliches menschliches Versagen“ gewesen, dass die chinesischen Filtervorgaben auch außerhalb Chinas griffen. Dass das innerhalb weniger Tage behoben wurde, beruhigt nicht. Schließlich merken wir in vielen Fällen womöglich nicht mal, wenn ein digitales Tool zensiert wird – und sei es aus Versehen.
Europa muss Antworten geben, um die Freiheit in einer digital transformierten Welt zu schützen; um liberale Demokratien an sich zu schützen. „Die größten Demokratien der Welt werden eine hochwertige Alternative zu China für die Modernisierung der physischen, digitalen und gesundheitlichen Infrastruktur bieten, die widerstandsfähiger ist und die globale Entwicklung unterstützt“, schrieb US-Präsident Joe Biden kürzlich in einem Gastbeitrag für die Washington Post. Genau das sollte die gemeinsame Aufgabe sein.
Deutschland ist eine vertrauenswürdige Verteidigerin der Freiheit. Dazu muss aber auch jeder und jede Einzelne den unschätzbaren Wert der Freiheit in allem erkennen – und das nicht nur dann, wenn es um Pornos geht. Glaubwürdig können wir nur bleiben, wenn wir nicht gleichzeitig verfassungsrechtlich bedenkliche Gesetze verabschieden, die die Freiheit im Digitalen unterminieren: den Staatstrojaner etwa, die Vorratsdatenspeicherung oder die Netzsperren. Innovation und Bürgerrechte miteinander in Einklang zu bringen, das kann gelingen. Und dann wird Freiheit – ganz nach Hannah Arendt – auch im Netz weltliche Realität.
Dieser Gastbeitrag erschien am 21. Juni 2021 auf ZEIT Online