Handelsblatt Gastbeitrag: Verwaltungstransformation: Ein Hebel für Vertrauen, Demokratie und Lebenschancen
Der Begriff „Lebenschancen“, geprägt vom liberalen Denker Ralf Dahrendorf, beschreibt die Möglichkeiten, das Leben zu gestalten und Potenziale zu entfalten. Eine leistungsfähige Verwaltung sollte diese Chancen erweitern – nicht einschränken. Doch genau das geschieht, wenn die Modernisierung staatlicher Strukturen verschleppt wird.
Ein ineffizienter Staatsapparat führt zu Frustration, Existenzängsten und der Wahrnehmung, dass unsere Demokratie keine zeitgemäßen Services bieten kann. Beispiele wie die Grundsteuerreform, das Wohngeld und die Fachkräfteeinwanderung verdeutlichen die Auswirkungen – sowohl auf die Bürger als auch auf die Wirtschaft.
Die Grundsteuer: Wenn Bürger für staatliches Versagen zahlen
Die Grundsteuerreform hätte eine Routineaufgabe sein sollen, doch Millionen Bürger wurden gezwungen, Daten einzureichen, die dem Staat eigentlich bereits vorlagen. Die Hauptplattform ELSTER erwies sich dabei als nutzerunfreundlich, und selbst digitalaffine und gebildete Personen scheiterten an der Komplexität der digitalen Formulare und der unverständlichen Sprache. Hotlines der Finanzämter berichteten von verzweifelten Anrufen – manchmal unter Tränen.
Ein Lichtblick war die vom DigitalService des Bundes entwickelte Anwendung „Grundsteuererklärung für Privateigentum“. Sie ermöglichte eine intuitive und zeitsparende Bearbeitung in elf Bundesländern – ohne ELSTER-Konto, aber mit Nutzung der ELSTER-Schnittstelle. Durch Usability-Tests und die enge Zusammenarbeit mit Fachexperten konnten die Bedürfnisse der Nutzer frühzeitig berücksichtigt werden. Doch trotz ihres Erfolgs blieb das Potenzial der Anwendung auf die Bundesländer mit dem sogenannten Bundesmodell beschränkt.
Eine ineffiziente Verwaltung belastet nicht nur die Bürger, sondern untergräbt nachhaltig das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates. Die Grundsteuer wurde für viele Bürger zum Symbol einer Bürokratie, die das Leben unnötig erschwert, anstatt es zu erleichtern.
Wohngeld: Wenn Hilfe zu spät kommt
Das Wohngeld Plus, eingeführt im Januar 2023, sollte Haushalten mit niedrigen Einkommen in einer Zeit drastisch steigender Energiepreise dringend notwendige Entlastung bringen. Doch die Umsetzung legte gravierende Schwächen offen: Während nur in 200 Kommunen eine holprige digitale Antragstellung verfügbar war, stapelten sich in den restlichen knapp 11.000 Kommunen Papierberge mit Wohngeldanträgen. Bearbeitungszeiten von mehreren Monaten bis zu 40 Wochen waren keine Seltenheit.
Städte wie Köln sahen sich gezwungen, die Zahl ihrer Sachbearbeiter von 45 auf 157 Vollzeitkräfte zu erhöhen, unterstützt von weiteren 20 Hilfskräften, die ausschließlich für die Vorsortierung der komplizierten und daher fehleranfälligen Anträge zuständig waren. Für viele Antragsteller entwickelte sich das Wohngeld Plus zu einer existenziellen Belastung. Familien mussten sich Geld leihen, um Heizkosten zu bezahlen, und Alleinerziehende gerieten in prekäre Situationen, da weder für ihre Kinder noch für sie selbst ausreichend Mittel zur Verfügung standen.
Diese Unsicherheiten führten zu einer enormen psychischen Belastung. Antragsteller erhielten oft keinerlei Rückmeldungen und waren gleichzeitig gebeten, von Nachfragen abzusehen, um den Bearbeitungsprozess nicht weiter zu verzögern. Die lange Ungewissheit zerstört Vertrauen in den Staat und machte deutlich, dass der digitale Fortschritt in der Verwaltung dringend vorangetrieben werden muss.
Fachkräfteeinwanderung: Wenn Chancen an Grenzen stoßen
Deutschland braucht dringend Fachkräfte – doch ausgerechnet die zuständigen Ausländerbehörden sind chronisch überlastet. Menschen, die als Fachkräfte einwandern wollen oder bereits hier arbeiten, stoßen auf endlose Wartezeiten, ineffiziente Prozesse und teils absurde bürokratische Hürden.
Das neu eingeführte Auslandsportal des Auswärtigen Amtes zeigt, dass Deutschland digitale Verwaltung kann: Die Plattform wurde fristgerecht in allen deutschen Auslandsvertretungen implementiert und bietet nutzerfreundliche Lösungen bei der Beantragung von Visa oder der Chancenkarte. Doch mit ihrer Ankunft in Deutschland erleben Fachkräfte eine Verwaltung, die vielerorts kaum funktioniert. Die Dysfunktionalität der Ausländerbehörden im Inland wird zur existenziellen Belastung.
Die Bilder von Menschen, die vor der Ausländerbehörde in Stuttgart übernachteten, gingen durch die Medien. Seit Jahren kämpfen die Behörden mit einem enormen Arbeitsaufkommen – unter anderem durch Geflüchtete aus Nahost, Afrika und der Ukraine – ohne dass ausreichend Kapazitäten für notwendige strukturelle Reformen geschaffen wurden. Weder die Einführung einer eAkte noch eine umfassende Modernisierung etablierter Prozesse konnte umgesetzt werden. Das Ergebnis: Chaos, das sich in dramatischen Szenen wie in Stuttgart zuspitzt.
Für Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft, die in Deutschland leben und arbeiten, bedeutet das ständige Unsicherheit: Werden Aufenthaltsgenehmigungen rechtzeitig verlängert, oder droht das Risiko, das Land verlassen zu müssen? Arbeitgeber bangen um dringend benötigte Fachkräfte, die oft schon ein fester Bestandteil ihrer Teams sind. Diese Unsicherheit belastet nicht nur die Betroffenen psychisch, sondern gefährdet auch Unternehmen, die auf diese Mitarbeiter angewiesen sind.
Das Auslandsportal des Auswärtigen Amtes zeigt, dass digitale Projekte erfolgreich umgesetzt werden können. Doch Transformationen müssen ganzheitlich entlang der gesamten Prozesskette gestaltet werden – beispielsweise orientiert an Lebenslagen der Nutzer. Dies erfordert eine stärkere ressort- und ebenenübergreifende Zusammenarbeit, die bislang fehlt.
Warum die Verwaltungstransformation jetzt Priorität haben muss
Verwaltung ist das Rückgrat der Demokratie. Sie setzt politische Entscheidungen um und sorgt für gesellschaftliche Stabilität. Doch dieses Rückgrat droht zu brechen. Wenn Politik seine Vorhaben nicht effizient umsetzen kann, verliert er nicht nur an Glaubwürdigkeit, sondern treibt Bürger in die Arme der politischen Ränder. Erst recht, wenn Bürger das Gefühl haben, dass der Staat Geflüchteten oder anderen Bedürftigen hilft, sie selbst aber gegängelt werden und ewig auf Leistungen warten müssen, wenn sie diese in einer Situation der persönlichen Not beantragen müssen.
Die kommende Legislaturperiode wird entscheidend sein. Ohne eine leistungsfähige Verwaltung sind jegliche politische Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Das Vertrauen der Bürger in den Staat wird weiter erodieren, wenn er nicht zeigt, dass er handlungsfähig ist. Die Verwaltungstransformation muss zur Chefsache werden – nicht nur, um Lebenschancen zu schützen und zu erweitern, sondern um die Demokratie selbst zu bewahren.
Dieser Text erschien zuerst auf Seite 6 in der Sonderbeilage „Government Technology“ des Handelsblatts am 20. Februar 2025.