Die EU reagiert auf neuste Terroranschläge mit noch mehr Überwachung
Erst der Schock — dann die Panikreaktion. Die abscheulichen Anschläge in Paris, Nizza und Wien lassen die EU in leider gut bekannte Handlungsmuster verfallen: Auf Terror wird mit Einschränkungen unserer Freiheit reagiert, die angeblich mehr Sicherheit bringen. Wie nun bekannt wurde hat der Ministerrat eine Initiative vorbereitet, die die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von Messengerdiensten wie WhatsApp oder Signal aufweichen soll. Unter der deutschen Ratspräsidentschaft wird damit nicht nur noch weiter in unsere Grundrechte eingegriffen. Es wird auch die weltweite IT-Sicherheit unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Terror aufs Spiel gesetzt.
“Sicherheit durch Verschlüsselung, Sicherheit trotz Verschlüsselung”, forderte schon der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière und sorgte damit für viel Entsetzen bei Bürger- und Menschenrechtlern und IT-Expertinnen. Der gestern bekanntgewordene Vorstoß des Ministerrats folgt genau dieser Losung: Die Betreiber von Messengerdiensten sollen dazu verpflichtet werden, einen Generalschlüssel für den behördlichen Zugriff auf verschlüsselte Kommunikation zu hinterlegen. Genutzt werden soll offenbar die “Exceptional Access”-Methode des britischen Geheimdienstes GCHQ. Dies bedeutet aber, dass die sichere und verschwiegene Kommunikation von uns allen in Gefahr ist. Denn entgegen Verlautbarungen, dass diese Überwachung nur potenzielle Terrorist:innen beträfe, öffnet sie vielmehr ein Einfallstor für jegliche Cyber-Kriminelle oder Spione. Wir erinnern uns: selbst die NSA war nicht in der Lage, ihre genutzten Sicherheitslücken geheim zu halten. Weltweite Cyberattacken (Stichworte: WannayCry und NotPetya) mit Schäden in Milliardenhöhe und die Gefährdung von Menschenleben waren die Folge.
Abgesehen davon, dass Regulierungen dieser Art Auswirkungen auf die Nutzung von Technologie in der ganzen Welt haben, ist die Resolution des Ministerrats eine Einladung an autokratische Herrscher es der Europäischen Union gleichzutun und die Kommunikation ihrer Bürger:innen mitzulesen. Es darf nicht vergessen werden: Privatsphäre ist ein Menschenrecht, das auch in der europäischen Grundrechtecharta verankert ist. Wollen wir andere von unseren Werten überzeugen, so müssen wir hier mit gutem Beispiel vorangehen.
Aber auch das ewige Mantra, dass zusätzliche Überwachungsbefugnisse einen entscheidenden Beitrag zur Verhinderung solcher Terroranschläge beitragen muss endlich ernsthaft infrage gestellt werden. Seit mehr als 20 Jahren, spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001, wird die diffuse Angst der Menschen dazu ausgenutzt immer neue Eingriffsbefugnisse durchzusetzen. Trotzdem sehen wir uns im Jahr 2020 einer noch komplexeren Sicherheitslage gegenüber und haben noch nicht einmal den Ansatz einer Vorstellung davon, was diese Zugriffsrechte überhaupt genau bringen und wofür wir unsere Freiheiten eingeschränkt haben.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber sagte erst kürzlich wieder: Das für eine Demokratie erträgliche Maß an Überwachung ist bereits überstiegen! Trotzdem soll in Deutschland und der EU die verfassungswidrige Vorratsdatenspeicherung wieder eingeführt werden, die Geheimdienste dürfen nun auch offiziell per Staatstrojaner schnüffeln, die neue EU Anti-Terror-Verordnung soll über Uploadfilter funktionieren und die regelmäßige Evaluierung von Sicherheitsgesetzen, die nach dem 11. September 2001 verabschiedet wurden, wurde gerade vom Bundestag aufgehoben.
Der entsetzliche Terroranschlag in Wien hätte verhindert werden können, wenn Sicherheitsbehörden mit den Informationen von Geheimdiensten, die ihnen vorlagen, gearbeitet hätten und diese ernst genommen hätten. Wie so häufig. Es gab auch hier, keinen Mangel an Befugnissen und Information. Wir sehen immer wieder, dass klassische Polizeiarbeit einer gut organisierten und vor allem personell gut ausgestatteten Truppe die größten Erfolge im Kampf gegen den Terror bringen.
Wir sind also auf einem falschen Weg im Kampf um mehr Sicherheit. Unter deutscher Führung scheint die EU diesen nun fortzusetzen. Sie droht dabei aber nicht nur ihre Grundwerte aufzugeben. Sie fällt auch all jenen Menschen in den Rücken, die sich weltweit für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Die Demonstranten, die in Hongkong oder Belarus gegen autokratische Herrschaft, Überwachung und Unterdrückung kämpfen und ihre Freiheit und ihr Leben aufs Spiel setzen, sind angewiesen auf sichere und integre Kommunikation. Die EU kann sich nicht einerseits mit ihnen solidarisieren und ihnen im gleichen Zug die Grundlage für ihren Einsatz entziehen.
Dieser Text erschien gemeinsam mit Dr. Maximilian Spohr zuerst auf freiheit.org.